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KommDesign.de — Texte — Aufmerksamkeit (1)

Die Mär von der defekten Aufmerksamkeit

Von Informationen und Infos
Warum Aufmerksamkeit ein Top-Thema ist

 
   
von Informationen und Infos

Das Internet-Magazin "Hotwired" hat in Zusammenhang mit den Rezeptionsgewohnheiten der Internet-Surfer/innen einmal den schönen Begriff "Attention Deficit Disorder" geprägt und damit in eindrucksvoller Weise seine Wortgewalt unter Beweis gestellt. Auch sonst redet man ja gerne und viel von verkorkster Aufmerksamkeit, und vorzugsweise wird diese von pädagogischen Bedenkenträgern gleich der ganzen Jugendgeneration angedichtet. 

Tatsächlich ist dies aber eine Fiktion, und der Glaube an ihre Existenz einer der meistverbreiteten populärpsychologischen Irrtümer - der auch durch die endlose Wiederholung markiger Schlagworte wie dem von der "Seuche des Informationszeitalters" nicht richtiger wird. Wenn man nüchtern darüber nachdenkt, muß man zu dem Schluß kommen, daß unsere Aufmerksamkeit auf Mechanismen beruht, die in Jahrtausenden nach biologischen Erfordernissen entwickelt und optimiert wurden. Cyberspace hin, JAVA her: unsere Gehirne sind - zum Glück - die gleichen geblieben. Was wie defekte Aufmerksamkeit aussieht, ist mitnichten eine Zivilisationskrankheit, sondern ein Problem, das schlicht und einfach durch mangelhafte Qualität entsteht. Anders gesagt: Wenn das Web mit Dingen vollgestopft wird, die keine Aufmerksamkeit wert sind, nimmt es nicht Wunder, wenn die Benutzer/innen 90% dieses Informationsmülls kurzerhand wegfiltern. Vom psychlogischen Standpunkt aus betrachtet ist das völlig Ordnung, es ist eine Anpassungsreaktion, die ich persönlich als äußerst zweckdienlich und gesund bezeichnen würde. 

Es gibt andererseits in den traditionellen Medien genügend Beispiele, die belegen, daß nach wie vor auch sehr umfangreiche Informationshäppchen ein interessiertes Publikum finden können. Viele Kult-Bücher aus dem Fantasy- oder Science-Fiction Genre - mit zumeist jugendlichem Publikum - sind mehrbändige Riesenpublikationen. Hierfür könnte man viele Beispiele anführen, das vielleicht prominenteste ist Tolkiens "Herr der Ringe". Wenn die Aufmerksamkeitsdefekte des modernen Homo sapiens wirklich so schlimm wären, wie allenthalben behauptet wird, dürfte von diesem Buch eigentlich nur der Text auf dem Einband bekannt sein. Das gleiche gilt für Filmprojekte wie "Der mit dem Wolf tanzt" oder die erst kürzlich wieder verlängerte "Starwars"-Reihe, die sich geradezu episch in die Länge und Breite ziehen. Das Publikum betrachtet sich auch hier nicht nur den Vorspann, um dann entkräftet über der Popcorn-Tüte zusammenzubrechen. Es schaut vielmehr mit Wonne die ganzen Filme, eventuell sogar mehrmals, wartet auf weitere Folgen und zeigt sich damit überaus aufmerksam und hartnäckig. Ich persönlich bin der Ansicht, daß der Kult in diesen Fällen sogar ganz direkt mit dem Umfang der Werke zu tun hat. Als 50seitiger Comic-Strip oder Novelle wäre der "Herr der Ringe" sang- und klanglos untergegangen, und auch der Erfolg von "Starwars" wäre mit einem Kurzfilmchen nicht zu machen gewesen. Dinge, die die Aufmerksamkeit und Geduld des Publikums fordern, sind also bestens verkäuflich, wenn sie gut sind und den richtigen Nerv treffen.

 
 
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Kann man dies aber so einfach auf das neue Medium WWW übertragen? Ich denke: ja. Wenn jemand im Web ein Angebot findet, das fesselt (interessant und/oder unterhaltsam und/oder nützlich ist), wird er oder sie sich ganz mühelos und selbstverständlich hierauf konzentrieren, solange es nötig ist. Leider führt der Irrglauben an die defekte Aufmerksamkeit der Surfer aber dazu, daß die weisen Gestalter und Entscheider meinen, ihre Seiten in mundgerechte Bissen zerkleinern und multimedial vorkauen zu müssen - womit sind sie dann genau das desinteressierte Rezeptionsverhalten auslösen, dem sie eigentlich den Kampf angesagt haben. Das Klagen über Aufmerksamkeitsdefizite ist dann eine bequeme Ausrede. Wenn dieSchuld für das mangelnde Interesse des Publikums bei diesem selbst liegt, ist das ja doch alles in allem nicht unpraktisch, oder? Außerdem spart es Arbeit, weil ja flach-schmale Dinge viel leichter und schneller herzustellen sind als tief-breite. So degeneriert alles, was lehrreich oder interessant sein könnte, zur "Info", weil die armen Benutzer/innen - vermeintlich - nicht dazu in der Lage sind, sich auf Texte zu konzentrieren, die länger als eine Bildschirmseite sind. Wenn das durchschnittliche Surferpublikum sich nur 3-5 Minuten auf einer durchschnittlichen Website aufhält, hat es aber mitnichten einen Aufmerksamkeitsdefekt, sondern etwas anderes, nämlich schlicht und einfach: Nichts gefunden.

Ich behaupte: Wenn die Inhalte stimmen, kann man auch im Internet das Publikum fordern. Es wird hierfür sogar dankbar sein - und die Fünf-Minuten Terrinen der anderen links liegen lassen. Wer etwas zu sagen hat, sollte dies also tun und sich genauso viel Raum nehmen, wie dafür erforderlich ist - nicht weniger, aber auch nicht mehr.

 
 
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Warum Aufmerksamkeit ein Top-Thema ist

Obwohl die "Attention Deficit Disorder" also eine Mär ist, bleibt es eine der wichtigsten Aufgaben im Webdesign, die Aufmerksamkeit des Publikums zu gewinnen  - wie in jedem anderen Kommunikationsprozeß. Und es ist auch zugleich eine der schwierigsten, weil die äußeren Voraussetzungen im Web hierfür denkbar schwierig sind. 

Es besteht eine hohe Grundbelastung durch... 

  • große Informationsmengen,
  • ständig ansteigenden Informationsinput, 
  • hohe Komplexität und Vernetztheit der Informationen, 
  • relativ ähnliche Angebote, 
  • geringe Informationsqualität,
  • einen hohen Anteil an irrelevanten und ablenkenden Inhalten,
  • falsche Design-Strategien, z.B. bei der Hervorhebung von Information.
Gleichzeitig wird es immer schwieriger, Hintergründe zu durchschauen, z.B. relevante von irrelevanten Inhalten, seriöse von unseriösen Informationsquellen zu unterscheiden. Wenn Benutzer/innen dem begegnen wollen, müssen sie zwangsläufig 
  • mehr ausfiltern, 
  • mehr vergessen, 
  • flüchtiger wahrnehmen, 
  • weniger reflektieren.
Dies ist allerdings, wie weiter oben ausgeführt wurde, keine Krankheit, sondern eine Anpassung an die besonderen Eigenschaften des Mediums. Wie man dieses Rezeptionsverhalten unterbrechen und echtes Interesse am eigenen Angebot wecken und wachhalten kann, ist eine der wichtigsten Fragen überhaupt - für die jeder, der sich als Informationsanbieter im Web bewegt, plausible Antworten finden muß.
 
 
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© Dr. Thomas Wirth Kommunikationsdesign - eMail: thomas.wirth@kommdesign.de
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