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Artikel 6 von 34
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KommDesign.de Texte Aufmerksamkeit
(1)
Die Mär von der defekten Aufmerksamkeit
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Von Informationen und Infos
Warum Aufmerksamkeit ein Top-Thema ist
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von
Informationen und Infos
Das Internet-Magazin "Hotwired" hat in Zusammenhang
mit den Rezeptionsgewohnheiten der Internet-Surfer/innen einmal
den schönen Begriff "Attention Deficit Disorder"
geprägt und damit in eindrucksvoller Weise seine Wortgewalt
unter Beweis gestellt. Auch sonst redet man ja gerne und viel
von verkorkster Aufmerksamkeit, und vorzugsweise wird diese von
pädagogischen Bedenkenträgern gleich der ganzen Jugendgeneration
angedichtet.
Tatsächlich ist dies aber eine Fiktion, und der Glaube an
ihre Existenz einer der meistverbreiteten populärpsychologischen
Irrtümer - der auch durch die endlose Wiederholung markiger
Schlagworte wie dem von der "Seuche des Informationszeitalters"
nicht richtiger wird. Wenn man nüchtern darüber nachdenkt,
muß man zu dem Schluß kommen, daß unsere Aufmerksamkeit
auf Mechanismen beruht, die in Jahrtausenden nach biologischen
Erfordernissen entwickelt und optimiert wurden. Cyberspace hin,
JAVA her: unsere Gehirne sind - zum Glück - die gleichen
geblieben. Was wie defekte Aufmerksamkeit aussieht, ist
mitnichten eine Zivilisationskrankheit, sondern ein Problem, das
schlicht und einfach durch mangelhafte Qualität entsteht.
Anders gesagt: Wenn das Web mit Dingen vollgestopft wird, die
keine Aufmerksamkeit wert sind, nimmt es nicht Wunder, wenn die
Benutzer/innen 90% dieses Informationsmülls kurzerhand wegfiltern.
Vom psychlogischen Standpunkt aus betrachtet ist das völlig
Ordnung, es ist eine Anpassungsreaktion, die ich persönlich
als äußerst zweckdienlich und gesund bezeichnen würde.
Es gibt andererseits in den traditionellen Medien genügend
Beispiele, die belegen, daß nach wie vor auch sehr umfangreiche
Informationshäppchen ein interessiertes Publikum finden können.
Viele Kult-Bücher aus dem Fantasy- oder Science-Fiction Genre
- mit zumeist jugendlichem Publikum - sind mehrbändige Riesenpublikationen.
Hierfür könnte man viele Beispiele anführen, das
vielleicht prominenteste ist Tolkiens "Herr der Ringe".
Wenn die Aufmerksamkeitsdefekte des modernen Homo sapiens wirklich
so schlimm wären, wie allenthalben behauptet wird, dürfte
von diesem Buch eigentlich nur der Text auf dem Einband bekannt
sein. Das gleiche gilt für Filmprojekte wie "Der mit
dem Wolf tanzt" oder die erst kürzlich wieder verlängerte
"Starwars"-Reihe, die sich geradezu episch in die Länge
und Breite ziehen. Das Publikum betrachtet sich auch hier nicht
nur den Vorspann, um dann entkräftet über der Popcorn-Tüte
zusammenzubrechen. Es schaut vielmehr mit Wonne die ganzen Filme,
eventuell sogar mehrmals, wartet auf weitere Folgen und zeigt
sich damit überaus aufmerksam und hartnäckig. Ich persönlich
bin der Ansicht, daß der Kult in diesen Fällen sogar
ganz direkt mit dem Umfang der Werke zu tun hat. Als 50seitiger
Comic-Strip oder Novelle wäre der "Herr der Ringe"
sang- und klanglos untergegangen, und auch der Erfolg von "Starwars"
wäre mit einem Kurzfilmchen nicht zu machen gewesen. Dinge,
die die Aufmerksamkeit und Geduld des Publikums fordern, sind
also bestens verkäuflich, wenn sie gut sind und den
richtigen Nerv treffen.
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Kann man dies aber so einfach auf
das neue Medium WWW übertragen? Ich denke: ja. Wenn jemand
im Web ein Angebot findet, das fesselt (interessant und/oder unterhaltsam
und/oder nützlich ist), wird er oder sie sich ganz mühelos
und selbstverständlich hierauf konzentrieren, solange es nötig
ist. Leider führt der Irrglauben an die defekte Aufmerksamkeit
der Surfer aber dazu, daß die weisen Gestalter und Entscheider
meinen, ihre Seiten in mundgerechte Bissen zerkleinern und multimedial
vorkauen zu müssen - womit sind sie dann genau das desinteressierte
Rezeptionsverhalten auslösen, dem sie eigentlich den Kampf
angesagt haben. Das Klagen über Aufmerksamkeitsdefizite ist
dann eine bequeme Ausrede. Wenn dieSchuld für das mangelnde
Interesse des Publikums bei diesem selbst liegt, ist das ja doch
alles in allem nicht unpraktisch, oder? Außerdem spart es
Arbeit, weil ja flach-schmale Dinge viel leichter und schneller
herzustellen sind als tief-breite. So degeneriert alles, was lehrreich
oder interessant sein könnte, zur "Info", weil die
armen Benutzer/innen - vermeintlich - nicht dazu in der Lage sind,
sich auf Texte zu konzentrieren, die länger als eine Bildschirmseite
sind. Wenn das durchschnittliche Surferpublikum sich nur 3-5 Minuten
auf einer durchschnittlichen Website aufhält, hat es aber mitnichten
einen Aufmerksamkeitsdefekt, sondern etwas anderes, nämlich
schlicht und einfach: Nichts gefunden.
Ich behaupte: Wenn die Inhalte stimmen, kann man auch im Internet
das Publikum fordern. Es wird hierfür sogar dankbar sein
- und die Fünf-Minuten Terrinen der anderen links liegen
lassen. Wer etwas zu sagen hat, sollte dies also tun und sich
genauso viel Raum nehmen, wie dafür erforderlich ist - nicht
weniger, aber auch nicht mehr.
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Warum
Aufmerksamkeit ein Top-Thema ist
Obwohl die "Attention Deficit Disorder" also eine Mär
ist, bleibt es eine der wichtigsten Aufgaben im Webdesign, die
Aufmerksamkeit des Publikums zu gewinnen - wie in jedem
anderen Kommunikationsprozeß. Und es ist auch zugleich eine
der schwierigsten, weil die äußeren Voraussetzungen
im Web hierfür denkbar schwierig sind.
Es besteht eine hohe Grundbelastung durch...
- große Informationsmengen,
- ständig ansteigenden Informationsinput,
- hohe Komplexität und Vernetztheit der Informationen,
- relativ ähnliche Angebote,
- geringe Informationsqualität,
- einen hohen Anteil an irrelevanten und ablenkenden Inhalten,
- falsche Design-Strategien, z.B. bei der Hervorhebung von Information.
Gleichzeitig wird es immer schwieriger, Hintergründe zu durchschauen,
z.B. relevante von irrelevanten Inhalten, seriöse von unseriösen
Informationsquellen zu unterscheiden. Wenn Benutzer/innen dem begegnen
wollen, müssen sie zwangsläufig
- mehr ausfiltern,
- mehr vergessen,
- flüchtiger wahrnehmen,
- weniger reflektieren.
Dies ist allerdings, wie weiter oben ausgeführt wurde, keine
Krankheit, sondern eine Anpassung an die besonderen Eigenschaften
des Mediums. Wie man dieses Rezeptionsverhalten unterbrechen und
echtes Interesse am eigenen Angebot wecken und wachhalten kann,
ist eine der wichtigsten Fragen überhaupt - für die jeder,
der sich als Informationsanbieter im Web bewegt, plausible Antworten
finden muß. |
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