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KommDesign.de — Texte — Wahrnehmung — Gestaltpsychologie (1)

Die Gesetze der Nähe und Ähnlichkeit

Was ist Gestaltpsychologie?
Das Gesetz der Nähe
Das Gesetz der Ähnlichkeit

 
   

 Was ist "Gestaltpsychologie"?

Die Gestaltpsychologie ist eine Wahrnehmungslehre, die in den 20er bis 40er Jahren des letzten Jahrhunderts in Deutschland entstanden ist (ihre Wurzeln reichen zurück bis ins 19. Jahrhundert). Die Gestaltpsychologen interessierten sich vor allem dafür, wie wir komplexe Szenerien oder Reize wahrnehmen.

  • Warum sehen wir das eine als Vordergrund und das andere als Hintergrund?
  • Wie entsteht der Eindruck einer Form?
  • Wovon hängt es ab, wie leicht oder wie schnell wir eine Figur oder Form erkennen?
  • Was ist eine "gute" Form?
  • Wie und warum sehen wir Zusammenhänge zwischen Dingen?
  • Wodurch wird das Erkennen von Zusammenhängen (und Unterschieden) erleichtert oder erschwert?
  • Welche Eigenschaften machen ein "Ding" zu einer Figur in unserer Wahrnehmung, die von anderen Figuren unterschieden ist?
Fragen über Fragen. Die Gestaltpsychologen versuchten also, Gesetze zu finden, mit deren Hilfe man erklären könnte, warum wir von den unendlich vielen verschiedenen Interpretationen einer Szene oder eines Bildes immer nur bestimmte wahrnehmen, während uns andere Möglichkeiten "irgendwie unlogisch" vorkommen. Diese Gesetze, die man die "Gestaltgesetze der Organisation" nennt, gehören zu dem interessantesten Inhalten mit denen man sich überhaupt beschäftigen kann, wenn man versucht, das Design von Benutzeroberflächen oder Websites systematischer zu betreiben. Man kann mit ihrer Hilfe verstehen, warum bestimmte Lösungen gut oder weniger gut (oder auch hundsmiserabel) gelungen sind.Das Verdienst der Gestaltpsychologen war dabei nicht, etwas ganz Neues zu erfinden, sondern relativ alltägliche Erfahrungen so genau zu beobachten und zu ordnen, dass eine Systematik von Regeln entstand. Das ist kein geringes Verdienst, denn erst hierdurch wird ein Verstehen und eine praktische Nutzung der Erfahrungen möglich. In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass sich die Gestaltgesetze nicht auf Inhalte beziehen, sondern auf abstrakte Muster, Zusammenhänge, Eigenschaften und Verhältnisse. Sie beschreiben, wie wir "Dinge" wahrnehmen - unabhängig davon, ob es sich um Landschaften, Gesichter, Konservendosen, Wellensittiche - oder eben Websites handelt. Nichtsdestotrotz muss man bei der Lösung von Gestaltungsproblemen natürlich auch berücksichtigen, was dargestellt wird. Oft kann nur in Zusammenhang mit den Inhalten geklärt werden, welches Gesetz in welcher Weise angewendet werden kann, um ein optimales Ergebnis zu erzielen. Bevor wir beginnen möchte ich noch einen kurzen Ausblick auf die Inhalte dieser kurzen Reihe geben:In diesem Artikel möchte ich zunächst die einfachsten Gestaltgesetze darstellen. nämlich:
      • Das Gesetz der Nähe
      • Das Gesetz der Ähnlichkeit
In dem folgenden Artikel werden zwei weitere "Grundgesetze" behandelt. Diese sind...
      • Das Gesetz der Geschlossenheit
      • Das Gesetz der guten Fortsetzung
Ein dritter Artikel ist derzeit noch in Arbeit. Es geht darin um abstraktere Prinzipien unserer Wahrnehmung:
      • Das Gesetz der Einfachheit
      • Das Gesetz der Prägnanz oder "guten Gestalt"
      • Die Gesetze von Figur und Hintergrund
Nun aber genug der Vorrede. Beginnen wir also unseren Streifzug durch die Gestaltpsychologie mit dem...
 
 
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 Das Gesetz der Nähe 
Dinge, die räumlich nahe beieinander liegen, werden von unserer Wahrnehmung gruppiert, also als zusammengehörig aufgefaßt. Dinge, die weit voneinander entfernt liegen, werden als getrennt und unabhängig wahrgenommen.

Wahrscheinlich sehen Sie hier 5 schmale Säulen. Dieser Eindruck wird durch Nähe vermittelt. Die Abstände zwischen den Linien, die gemeinsam eine Säule bilden, sind so gering, dass sie von unserer Wahrnehmung zusammengefaßt werden. Damit dieser Effekt zustandekommt, müssen die Distanzen zwischen den Säulen deutlich größer sein als die innerhalb der Säulen.

Das Gesetz der Nähe ist das einfachste Gestaltgesetz - was nicht so zu verstehen ist, es sei damit auch das unwichtigste. Verstöße gegen das Gesetz der Nähe können verheerende Auswirkungen auf die Verständlichkeit einer Website oder Benutzeroberfläche haben. Das betrifft nicht nur Buttons und Grafiken, sondern auch das Layout von Texten bzw. Links. Wie kann man sich einen solchen "Verstoß" vorstellen? Ich möchte es an einem vorher-nachher Beispiel verdeutlichen. Die folgenden Grafik zeigt einen verkleinerten Screenshot des Webkatalogs von "Lycos Comundo".

Hier (Original) ist alles in Ordnung. Die Links innerhalb der verschiedenen Gruppen bzw. Kategorien sind nach dem Gesetz der Nähe gruppiert. Die vertikalen Abstände zwischen den Kategorien (z.B. Finanzen, Sport) sind größer als die Abstände innerhalb einer Kategorie (Finanzen Versicherungen, Wirtschaft, Karriere).

Das folgende Beispiel zeigt noch einmal eine Layout-Variante des Katalogs. Diesmal wird das Gesetz der Nähe verletzt.

Die vertikalen Abstände der Kategorien sind hier verengt und auf gleiche Distanzen gebracht. Es wird weniger Fläche verbraucht, der Eindruck ist aber im Vergleich zu der großzügigeren Variante oben nicht vorteilhafter. Im Gegenteil: Die Orientierung wird erschwert.

Das Bilden von Kategorien in Menüleisten ist ebenfalls ein Gestaltungsproblem, das mit Hilfe des Gesetzes der Nähe gelöst werden kann. Wenn man Informationen geschickt anordnet, lassen sich Leisten und Subleisten ganz ohne Rahmen und Buttons definieren, nur durch den Einsatz unterschiedlicher Abstände.

In diesem Menü wird das Gesetz der Nähe genutzt, um die Auswahlmöglichkeiten sichtbar und selbsterklärend zu kategorisieren. Sehen wir uns die Sache einmal etwas genauer an. Es gibt hier...

1. Das Home-Link
2. Einen Leerraum
3. Die Gruppe der Produkt-Links
4. Einen zweiten Leerraum
3. Die Gruppe der Links, welche die Kommunikation zwischen Anbieter und Besuchern betreffen.

Wie es das Gesetz der Nähe vorschreibt, sind die Abstände zwischen den Kategorien deutlich größer als die Abstände innerhalb der Link-Listen.

Die Logik, die hinter dem Gesetz der Nähe steckt und die gezeigten Beispiele machen etwas sehr wichtiges deutlich: Leere wird von unserer Wahrnehmung als Information verwertet. Sofern sie mit Überlegung eingesetzt wird, ist sie also keine Platzvergeudung, sondern ein Gestaltungsmittel, das dabei hilft, Informationen sinnvoll zu ordnen und verständlich zu machen. Es ist demnach also wenig sinnvoll, Informationen auf einer Website endlos zu verdichten, um möglichst viel Inhalte auf möglichst kleinem Raum unterzubringen. Leerräume sind das, was die Pausen in der Musik sind. Sie tragen Bedeutungen.

 
 
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Das Gesetz der Ähnlichkeit
Dinge, die ähnlich sind, werden von unserer Wahrnehmung gruppiert, also als zusammengehörig aufgefaßt. Umgekehrt werden Dinge, die sich in wichtigen Merkmalen unterscheiden, als voneinander getrennt oder unabhängig wahrgenommen.
Die Abbildung zeigt wieder 10 Linien. Die Distanzen zwischen ihnen sind gleich, nach dem Gesetz der Nähe gibt es also keine Struktur in ihrer Anordnung. Die Ähnlichkeit in der Farbgebung bewirkt aber, dass sie in unserer Wahrnehmung gruppiert werden. Die roten und schwarzen Linie bilden 5 Paare, und wir tendieren dazu, diese Paare als Einheiten wahrzunehmen.

Worauf die Ähnlichkeit zurückgeht, ist übrigens in dem Gesetz nicht festgelegt. Es kann sich um Farben, Textur, Größe, Helligkeit oder auch um die Bewegungsrichtung, die Geschwindigkeit handeln. Je mehr Gemeinsamkeiten zwei Objekte aufweisen, desto stärker ist die Gruppierungstendenz in unserer Wahrnehmung. Das Gesetz der Ähnlichkeit kann ganz direkt auf das Webdesign übertragen werden. Auf einer Web-Seite (oder einem Interface) werden Elemente, die gleich aussehen und sich eindeutig von den anderen unterscheiden zu einer Gruppe zusammengeschlossen. Man kann dies sehr schön an den Shopping-Buttons auf amazon.com zeigen:

Die Buttons "Add to Cart", "More like this" und "Add to Wish List" haben die gleiche prägnante Form, und durch das Orange werden sie von den anderen Elementen auf der Seite farblich eindeutig abgesetzt. Trotz der großen Distanzen zwischen den Buttons erkennt unsere Wahrnehmung diese Ähnlichkeiten mühelos und faßt die Buttons zu einer funktionellen Gruppe zusammen - was in diesem Beispiel auch gewünscht und sinnvoll ist. Auch wenn ein Benutzer noch niemals einen Shop bedient hat, selbst wenn er noch nie im Internet unterwegs war, wird er intuitiv erkennen, dass diese Elemente etwas gemeinsam haben müssen. Worin diese Gemeinsamkeit in der Funktion oder Bedeutung bestehen könnte, ist alleine aufgrund der Ähnlichkeit in der Gestaltung natürlich nicht erkennbar. Das Gesetz der Ähnlichkeit ist im Webdesign aus (mindestens) zwei Gründen wichtig:

  • Erstens ist das, was man Konsistenz einer Benutzeroberfläche nennt (sprich: eine einheitliche Gestaltung in verschiedenen Teilanwendungen und -fenstern) immer das Ergebnis von Ähnlichkeiten. Wie wir gerade gesehen haben, sind z.B. in einem guten Web-Shop die Tasten für das Ausführen von Navigationsschritten einheitlich gestaltet.
  • Zweitens bietet Ähnlichkeit eine Möglichkeit, Elemente auch über größere Distanzen hinweg zu verbinden. Vom Standpunkt eines Gestalters aus gesehen ergänzt es also das Gesetz Nähe. Wenn es nicht möglich ist, Gemeinsamkeiten durch Nähe zu kodieren, kann man dem Benutzer durch Ähnlichkeit verdeutlichen, was zusammengehört und was nicht.
Zur Veranschaulichung des zweiten Punktes möchte ich noch kurz auf ein Beispiel eingehen. Die folgende Tabelle habe ich auf der Website der Uni Wien gefunden. Es geht darin um ein für unbedarfte Besucher unerhört langweiliges Thema, nämlich statistische Daten zu Beschäftigungszahlen:
 

Dieses Layout ist alles andere als gelungen. Die Abstände der Werte innerhalb einer Kategorie - z.B. zwischen den Zahlen 162 und 5 (unter "Summe"), die logisch zusammengehören - sind größer als die Abstände zwischen den Werten und den Zeichen, welche die Spalten begrenzen (dem "I"). Unser Auge gruppiert unwillkürlich die falschen Zeichen zusammen - weshalb es ziemlich anstrengend ist, die Zahlen in der Tabelle zu analysieren.

 

In dieser Tabelle wurden die zusammengehörigen Werte jeweils in der gleichen Farbe dargestellt. Der Wechsel von grüner zu roter Schrift wäre eigentlich nicht erforderlich, er sorgt nur für eine zusätzliche optische Trennung. Das Layout ist auch jetzt noch nicht optimal, da das Gesetz der Nähe weiter verletzt ist. Durch die Farbgebung - also das Gesetz der Ähnlichkeit - wird die Darstellung jedoch entscheidend verbessert.

 
 
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© Dr. Thomas Wirth Kommunikationsdesign - eMail: thomas.wirth@kommdesign.de
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