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KommDesign.de — Texte — Kommunikation (6)

Eine kleine Website-Typologie

Das Modell Asket
Das Modell Provisorium
Das Modell Hochglanz
Das Modell Knossos
Das Modell Las Vegas
Das Modell Ästhet
Das Modell Tomorrows Website

 
   
Die wichtigsten Spezies und Sub-Spezies von Web-Sites lassen sich in ein Ordnungsschema mit 7 Kategorien klassifizieren. Diese können - in Anlehnung an die Gepflogenheiten der Möbelindustrie - mit einprägsamen Namen versehen werden.  
   
1. Das Modell "Asket"

Dieses wird v.a. von Mathematikern, Informatikern oder Ingenieuren "gebaut", die sich in ihrer Arbeit von allem plump - vertraulich - emotional - konkret - bildhaftem Schnickschnack gelöst haben. Das Modell Asket versorgt uns in jeder Hinsicht nur mit dem unbedingt nötigen und verfolgt v.a. das Ziel, möglichst wenig Übertragungskapazität zu verbrauchen. In diesem Sinne verbietet es sich zwar eigentlich, mehr hierzu zu sagen, es sollte jedoch erwähnt werden, daß die Produkte in ihrer kühlen, eleganten Kargheit an die Ästhetik der japanischen Innenarchitektur erinnern. Es bleibt abzuwarten, ob sich dieses Modell in unserer westlichen, vergnügungssüchtigen Gesellschaft durchsetzen wird. Immerhin werden viele Exemplare wahrscheinlich mittelfristig gesehen ihr Ziel, Übertragungskapazität zu sparen, vollständig erreicht haben.  

 
 
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2. Das Modell "Provisorium"

In diesen sehr beliebten und erlebnisintensiven Web-Sites finden Sie allenthalben Falltüren und Sackgassen, die Ihnen zweierlei signalisieren, nämlich (a) daß hier irgendjemand hart arbeitet, und (b) daß man hier - noch nicht jetzt, aber sehr bald - wunderbare Dinge wird bestaunen können. Unverzichtbare Gestaltungselemente des Modells sind Baustellenseiten, Links, die defekt sind, ins Niemandsland führen oder auch jetzt - im - Moment - gerade - noch - nicht - aber - bestimmt - sehr - bald - funktionierende - download - Angebote. Wenn das Design wirklich anspruchsvoll sein soll, dürfen die Betreiber der Site natürlich nicht verraten, wann es endlich soweit ist. So wird mit dramaturgischem Geschick die Spannung ins Unerträgliche gesteigert - und natürlich werden Sie in regelmäßigen Abständen vorbeisurfen, begierig zu schauen, ob es das ersehnte Angebot jetzt endlich gibt, oder ? So kann man also nicht nur die Anzahl der "hits" erhöhen, sondern auch eine intensive Kundenbindung herstellen. .

 
 
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3. Das Modell "Hochglanz"

Während das Modell Provisorium sich groben Annäherungsversuchen eher entzieht - und gerade hierdurch Interesse weckt und eine Produktbindung herstellt, geht es hier unmittelbar zur Sache. Wir werden hier mit Informationen konfrontiert, die v.a. auf eines abzielen: Uns eindringlich und ein für allemal klar zu machen, daß das verantwortliche Unternehmen sich selbst für eine prima Sache hält. Die Gestalter der Seiten gehen nämlich völlig zu Recht davon aus, daß wir beim Besuch einer Web-Site zuallererst das dringende Bedürfnis haben, zu erfahren, wie lange es das Unternehmen gibt und wieviele Mitarbeiter, wieviel Umsatz, wieviele Sektionen, Filialen, Produkte, Partner es hat. Weiter wollen wir natürlich unbedingt wissen, daß das Unternehmen seriös, kundenorientiert, innovativ, kreativ, finanzstark, zukunftsorientiert, produktiv, kurz: in jeder Hinsicht vorbildlich ist - und entsprechende Informationen auf einer Web-Site glauben wir unbedingt (Sie nicht ?). 

Ein wichtiges Gestaltungselement der Hochglanz-Sites sind die Texte, wobei man zwischen den Stilarten traditionsbewußt ("Seit vielen Jahrzehnten steht der Name XYZ für . . ."), progressiv ("Wir sind ein junges, kreatives Team . . ."), nüchtern-geschäftsmäßig ("Wir sind eine Unternehmensgruppe mit 350 Filialen in 10 Ländern . . .") oder sentimental - vertraulich ("Ihr Erfolg liegt uns am Herzen . . .") wählen kann. Was gesagt wird, ist dabei letztlich nicht so wichtig, entscheidend ist nur, daß es uneingeschränkt positiv ist. Wichtig ist dann nur noch die völlige Abwesenheit von Humor und allem anderen, was dazu dienen könnte, die Besucher der Site von der zu vermittelnden Botschaft abzulenken oder gar zu unterhalten. So steht dem Durchbruch im WWW nichts mehr im Wege.  

 
   
4. Das Modell "Knossos" (nach dem Minotaurus-Labyrinth auf Kreta)

Dieses Modell ist eine Herausforderung für die erfahrenen Web-Surfer, für die Novizen bietet es erste unvergeßliche Eindrücke von der Informationsfülle des W-W-W. Es konfrontiert uns mit einem Gewirr von mindestens 1001 Seiten, dieses Gefühl haben wir zumindest, die sich nur minimal voneinander unterscheiden - um unser Gehirns etwas auf Trab zu bringen. Weil uns die Sache nicht zu leicht gemacht werden soll, bietet es pro Seite ca. 29 Links an. Wir haben so einen Erlebnisgewinn, der sich anderweitig (allerdings nur annähernd) durch die intensive Lektüre des Kursbuchs der Deutschen Bahn erzielen läßt. Um den Nervenkitzel noch zu steigern, wird im Modell Knossos gerne und oft in die Tiefe gearbeitet. Was wahres Surfen bedeutet, wissen sie erst, wenn Sie sich einmal 10-12 Ebenen unter der Startseite einer solchen Homepage bewegt haben. 

Die Knossos-Variante bietet sich v.a. für Großunternehmen an (oder solche, die es werden wollen), da eigene Größe und Importanz schließlich auf lumpigen 20 Seiten mit einfacher Struktur nicht so gut 'rüberzubringen sind. Merke: Je größer und unübersichtlicher, desto besser kann der Benutzer verstehen, warum man sich nicht gleich um seine Wünsche oder ähnliche Kinkerlitzchen kümmern kann. Wollte man die Philosophie der Knossos-Site mit einem Satz zusammenfassen, könnte man sagen: Sie wirft Ihre Schätze nicht jedem an den Hals. Sie will erobert werden. Übrigens wurde vorgeschlagen, diesen Typ - aufgrund seiner besonderen Auswirkung auf die Wachheit und das Bewußtsein seiner Kundschaft - in "Modell Nirvana" umzubenennen.

 
 
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 5. Das Modell "Las Vegas"

Mit dem Modell Las Vegas erreichen wir gewissermaßen die Formel 1 des Web-Designs. Sein Erkennungszeichen sind Laufschriften, Animationen sowie möglichst viele intensiv und bunt blinkende Icons. Der Programmierer einer Las Vegas-Site hat sein Ziel vollständig erreicht, wenn das Laien-Publikum staunend innehält und sich fragt: "Mensch, wie haben die das nur gemacht ?" Allerdings macht eine Animation per se noch kein Las Vegas. Wichtig ist (a) daß es sich um viele Animationen und Blinkelemente handelt - die Mindestzahl für eine Seite liegt bei 4 - 5, (b) daß sie möglichst schrill-bunt sind und (c) daß sie asynchron blinken. Nur wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, kann das unverwechselbare Produktgefühl entstehen, das eben die besondere Qualität einer Las Vegas Site ausmacht: Die Wachheit des Betrachters nimmt schlagartig zu, sein Herzschlag gerät kurzzeitig aus dem Takt, sein Blutdruck steigt und seine Aufmerksamkeit wird gleichzeitig in 5 verschiedene Richtungen gezerrt. Insofern ist das Navigieren hier etwas für Profis, die genau wissen, was sie wollen und sich nicht ablenken lassen - alle anderen potentiellen Benutzer/innen haben hier ohnehin nichts verloren. 

 
 
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6. Das Modell "Ästhet"

Das Modell Ästhet wird von besonders progressiven Designer/innen aus professionellen Agenturen hergestellt. Seine Konstrukteure möchten vor allem eines: Ihre Besucher durch absolutes High-End-Web-Design nachhaltig beeindrucken. Dabei gehen sie von zwei (völlig berechtigten) Vorannahmen aus. Die erste: Mindestens 50% der Web-Surfer sind potentielle Kunden, die nichts eiligeres zu tun haben, als einen Großauftrag zu vergeben. Die zweite (hierauf aufbauend): Potentielle Auftraggeber surfen stundenlang durchs WWW, um die Agentur mit dem coolsten Design ausfindig zu machen. 

Man kann die Wirkung des Modells Ästhet am besten erklären, indem man es der des Modells Las Vagas gegenüberstellt: Während das Modell Las Vegas den lauten Ausruf "boah-ey!" freisetzt, ist es beim Modell Ästhet ein verhaltenes: "cool!". In der Farbgebung bevorzugt das Modell Ästhet Pastelltöne, schlichtes weiß oder  (besser noch) schwarz mit auflockernden Grafiken und Schriftzügen, die sich - nicht zu groß und nicht zu klein und genau in der richtigen Form und genau an der richtigen Stelle - unaufdringlich ins Gesamtbild fügen. 

Ein unbedingtes Muß sind gut sichtbar plazierte Links zu den zahlreichen Produkten, die die Agentur bereits hergestellt hat. Natürlich gehen die Konstrukteure recht in der Annahme, daß Sie der Versuchung nicht widerstehen können, sich diese sofort eingehend zu betrachten. Ebenfalls unverzichtbar ist die Aufforderung "bitte besuchen Sie auch unsere Partner". Wir kommen dieser Bitte natürlich gerne nach und werden dann von der Firma A die beispielsweise Websites gestaltet, direkt zu der Firma B, die die Hardware für das Unternehmen A geliefert hat, und von dort wieder zur Firma C, die für die Leitungen von A nach B zuständig ist, oder auch zur Firma D, die die Pizza (was sonst?) für A, B und C liefert, katapultiert. Man lernt so eine Familie von echten Partnern kennen, die einander freundschaftlich zugetan sind, und man wünscht sich nichts sehnlicher als auch dazuzugehören.

 
 
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7. Das Modell "Tomorrows Website"

Hierbei handelt es sich um Produkte, die nur schwer ausfindig zu machen sind - eigentlich sogar überhaupt nicht, denn "Tomorrows Websites" sind noch gar nicht im Internet. Man trifft diese Spezies aber sehr häufig an, wenn man Webdesigner/innen oder -master/innen auf Mängel aufmerksam macht, die man auf ihren Internet-Seiten gefunden hat. Die Antwort, die man dann oft erhält, ist: "Jaja, das Problem kennen wir natürlich, aber wir werden unsere Seiten in Kürze völlig umgestalten, der Relaunch ist schon in Arbeit." Mit dieser Antwort ist Menschen wie mir, die an gewohnheitsmäßig an dem herumkritteln, was andere im Schweiße ihres Angesichts gestaltet haben, natürlich der Wind aus den Segeln genommen. 

Manche der Verantwortlichen scheinen übrigens wirklich an die Mär zu glauben, daß eine neue Website eine gute Website ist. Ich bin dann immer versucht zu fragen, ob sie denn auch schon wissen, welche Probleme es mit der neuen Site geben wird, die sie dann mit dem nächsten "Relaunch" lösen, dessen Probleme sie schließlich mit dem übernächsten Relaunch ausmerzen, so daß beim überübernächsten Relaunch (uswusf.). 

 
 
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© Dr. Thomas Wirth Kommunikationsdesign - eMail: thomas.wirth@kommdesign.de
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