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KommDesign.de Texte Kommunikation
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Eine kleine Website-Typologie
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Das Modell Asket
Das Modell Provisorium
Das Modell Hochglanz
Das Modell Knossos
Das Modell Las Vegas
Das Modell Ästhet
Das Modell Tomorrows
Website
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Die wichtigsten Spezies und Sub-Spezies
von Web-Sites lassen sich in ein Ordnungsschema mit 7 Kategorien
klassifizieren. Diese können - in Anlehnung an die Gepflogenheiten
der Möbelindustrie - mit einprägsamen Namen versehen werden. |
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1. Das
Modell "Asket"
Dieses wird v.a. von Mathematikern, Informatikern oder Ingenieuren
"gebaut", die sich in ihrer Arbeit von allem plump -
vertraulich - emotional - konkret - bildhaftem Schnickschnack
gelöst haben. Das Modell Asket versorgt uns in jeder Hinsicht
nur mit dem unbedingt nötigen und verfolgt v.a. das Ziel,
möglichst wenig Übertragungskapazität zu verbrauchen.
In diesem Sinne verbietet es sich zwar eigentlich, mehr hierzu
zu sagen, es sollte jedoch erwähnt werden, daß die
Produkte in ihrer kühlen, eleganten Kargheit an die Ästhetik
der japanischen Innenarchitektur erinnern. Es bleibt abzuwarten,
ob sich dieses Modell in unserer westlichen, vergnügungssüchtigen
Gesellschaft durchsetzen wird. Immerhin werden viele Exemplare
wahrscheinlich mittelfristig gesehen ihr Ziel, Übertragungskapazität
zu sparen, vollständig erreicht haben.
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2. Das
Modell "Provisorium"
In diesen sehr beliebten und erlebnisintensiven Web-Sites finden
Sie allenthalben Falltüren und Sackgassen, die Ihnen zweierlei
signalisieren, nämlich (a) daß hier irgendjemand hart
arbeitet, und (b) daß man hier - noch nicht jetzt, aber
sehr bald - wunderbare Dinge wird bestaunen können. Unverzichtbare
Gestaltungselemente des Modells sind Baustellenseiten, Links,
die defekt sind, ins Niemandsland führen oder auch jetzt
- im - Moment - gerade - noch - nicht - aber - bestimmt - sehr
- bald - funktionierende - download - Angebote. Wenn das Design
wirklich anspruchsvoll sein soll, dürfen die Betreiber der
Site natürlich nicht verraten, wann es endlich soweit ist.
So wird mit dramaturgischem Geschick die Spannung ins Unerträgliche
gesteigert - und natürlich werden Sie in regelmäßigen
Abständen vorbeisurfen, begierig zu schauen, ob es das ersehnte
Angebot jetzt endlich gibt, oder ? So kann man also nicht nur
die Anzahl der "hits" erhöhen, sondern auch eine
intensive Kundenbindung herstellen. .
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3. Das
Modell "Hochglanz"
Während das Modell Provisorium sich groben Annäherungsversuchen
eher entzieht - und gerade hierdurch Interesse weckt und eine
Produktbindung herstellt, geht es hier unmittelbar zur Sache.
Wir werden hier mit Informationen konfrontiert, die v.a. auf eines
abzielen: Uns eindringlich und ein für allemal klar zu machen,
daß das verantwortliche Unternehmen sich selbst für
eine prima Sache hält. Die Gestalter der Seiten gehen nämlich
völlig zu Recht davon aus, daß wir beim Besuch einer
Web-Site zuallererst das dringende Bedürfnis haben, zu erfahren,
wie lange es das Unternehmen gibt und wieviele Mitarbeiter, wieviel
Umsatz, wieviele Sektionen, Filialen, Produkte, Partner es hat.
Weiter wollen wir natürlich unbedingt wissen, daß das
Unternehmen seriös, kundenorientiert, innovativ, kreativ,
finanzstark, zukunftsorientiert, produktiv, kurz: in jeder Hinsicht
vorbildlich ist - und entsprechende Informationen auf einer Web-Site
glauben wir unbedingt (Sie nicht ?).
Ein wichtiges Gestaltungselement der Hochglanz-Sites sind die
Texte, wobei man zwischen den Stilarten traditionsbewußt
("Seit vielen Jahrzehnten steht der Name XYZ für . . ."),
progressiv ("Wir sind ein junges, kreatives Team . . ."), nüchtern-geschäftsmäßig
("Wir sind eine Unternehmensgruppe mit 350 Filialen in 10 Ländern
. . .") oder sentimental - vertraulich ("Ihr Erfolg liegt uns
am Herzen . . .") wählen kann. Was gesagt wird, ist dabei
letztlich nicht so wichtig, entscheidend ist nur, daß es
uneingeschränkt positiv ist. Wichtig ist dann nur noch die
völlige Abwesenheit von Humor und allem anderen, was dazu
dienen könnte, die Besucher der Site von der zu vermittelnden
Botschaft abzulenken oder gar zu unterhalten. So steht dem Durchbruch
im WWW nichts mehr im Wege.
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4. Das
Modell "Knossos" (nach dem Minotaurus-Labyrinth
auf Kreta)
Dieses Modell ist eine Herausforderung für die erfahrenen
Web-Surfer, für die Novizen bietet es erste unvergeßliche
Eindrücke von der Informationsfülle des W-W-W. Es konfrontiert
uns mit einem Gewirr von mindestens 1001 Seiten, dieses Gefühl
haben wir zumindest, die sich nur minimal voneinander unterscheiden
- um unser Gehirns etwas auf Trab zu bringen. Weil uns die Sache
nicht zu leicht gemacht werden soll, bietet es pro Seite ca. 29
Links an. Wir haben so einen Erlebnisgewinn, der sich anderweitig
(allerdings nur annähernd) durch die intensive Lektüre
des Kursbuchs der Deutschen Bahn erzielen läßt. Um
den Nervenkitzel noch zu steigern, wird im Modell Knossos gerne
und oft in die Tiefe gearbeitet. Was wahres Surfen bedeutet, wissen
sie erst, wenn Sie sich einmal 10-12 Ebenen unter der Startseite
einer solchen Homepage bewegt haben.
Die Knossos-Variante bietet sich v.a. für Großunternehmen
an (oder solche, die es werden wollen), da eigene Größe
und Importanz schließlich auf lumpigen 20 Seiten mit einfacher
Struktur nicht so gut 'rüberzubringen sind. Merke: Je größer
und unübersichtlicher, desto besser kann der Benutzer verstehen,
warum man sich nicht gleich um seine Wünsche oder ähnliche
Kinkerlitzchen kümmern kann. Wollte man die Philosophie der
Knossos-Site mit einem Satz zusammenfassen, könnte man sagen:
Sie wirft Ihre Schätze nicht jedem an den Hals. Sie will
erobert werden. Übrigens wurde vorgeschlagen, diesen Typ
- aufgrund seiner besonderen Auswirkung auf die Wachheit und das
Bewußtsein seiner Kundschaft - in "Modell Nirvana"
umzubenennen.
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5.
Das Modell "Las Vegas"
Mit dem Modell Las Vegas erreichen wir gewissermaßen die
Formel 1 des Web-Designs. Sein Erkennungszeichen sind Laufschriften,
Animationen sowie möglichst viele intensiv und bunt blinkende
Icons. Der Programmierer einer Las Vegas-Site hat sein Ziel vollständig
erreicht, wenn das Laien-Publikum staunend innehält und sich
fragt: "Mensch, wie haben die das nur gemacht ?" Allerdings macht
eine Animation per se noch kein Las Vegas. Wichtig ist (a) daß
es sich um viele Animationen und Blinkelemente handelt - die Mindestzahl
für eine Seite liegt bei 4 - 5, (b) daß sie möglichst
schrill-bunt sind und (c) daß sie asynchron blinken.
Nur wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, kann das unverwechselbare
Produktgefühl entstehen, das eben die besondere Qualität
einer Las Vegas Site ausmacht: Die Wachheit des Betrachters nimmt
schlagartig zu, sein Herzschlag gerät kurzzeitig aus dem
Takt, sein Blutdruck steigt und seine Aufmerksamkeit wird gleichzeitig
in 5 verschiedene Richtungen gezerrt. Insofern ist das Navigieren
hier etwas für Profis, die genau wissen, was sie wollen und
sich nicht ablenken lassen - alle anderen potentiellen Benutzer/innen
haben hier ohnehin nichts verloren.
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6. Das
Modell "Ästhet"
Das Modell Ästhet wird von besonders progressiven Designer/innen
aus professionellen Agenturen hergestellt. Seine Konstrukteure
möchten vor allem eines: Ihre Besucher durch absolutes High-End-Web-Design
nachhaltig beeindrucken. Dabei gehen sie von zwei (völlig
berechtigten) Vorannahmen aus. Die erste: Mindestens 50% der Web-Surfer
sind potentielle Kunden, die nichts eiligeres zu tun haben, als
einen Großauftrag zu vergeben. Die zweite (hierauf aufbauend):
Potentielle Auftraggeber surfen stundenlang durchs WWW, um die
Agentur mit dem coolsten Design ausfindig zu machen.
Man kann die Wirkung des Modells Ästhet am besten erklären,
indem man es der des Modells Las Vagas gegenüberstellt: Während
das Modell Las Vegas den lauten Ausruf "boah-ey!" freisetzt, ist
es beim Modell Ästhet ein verhaltenes: "cool!". In der Farbgebung
bevorzugt das Modell Ästhet Pastelltöne, schlichtes
weiß oder (besser noch) schwarz mit auflockernden
Grafiken und Schriftzügen, die sich - nicht zu groß
und nicht zu klein und genau in der richtigen Form und genau an
der richtigen Stelle - unaufdringlich ins Gesamtbild fügen.
Ein unbedingtes Muß sind gut sichtbar plazierte Links zu
den zahlreichen Produkten, die die Agentur bereits hergestellt
hat. Natürlich gehen die Konstrukteure recht in der Annahme,
daß Sie der Versuchung nicht widerstehen können, sich
diese sofort eingehend zu betrachten. Ebenfalls unverzichtbar
ist die Aufforderung "bitte besuchen Sie auch unsere Partner".
Wir kommen dieser Bitte natürlich gerne nach und werden dann
von der Firma A die beispielsweise Websites gestaltet, direkt
zu der Firma B, die die Hardware für das Unternehmen A geliefert
hat, und von dort wieder zur Firma C, die für die Leitungen
von A nach B zuständig ist, oder auch zur Firma D, die die
Pizza (was sonst?) für A, B und C liefert, katapultiert.
Man lernt so eine Familie von echten Partnern kennen, die einander
freundschaftlich zugetan sind, und man wünscht sich nichts
sehnlicher als auch dazuzugehören.
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7. Das Modell "Tomorrows Website"
Hierbei handelt es sich um Produkte, die nur schwer ausfindig
zu machen sind - eigentlich sogar überhaupt nicht, denn "Tomorrows
Websites" sind noch gar nicht im Internet. Man trifft diese Spezies
aber sehr häufig an, wenn man Webdesigner/innen oder -master/innen
auf Mängel aufmerksam macht, die man auf ihren Internet-Seiten
gefunden hat. Die Antwort, die man dann oft erhält, ist:
"Jaja, das Problem kennen wir natürlich, aber wir werden
unsere Seiten in Kürze völlig umgestalten, der Relaunch
ist schon in Arbeit." Mit dieser Antwort ist Menschen wie mir,
die an gewohnheitsmäßig an dem herumkritteln, was andere
im Schweiße ihres Angesichts gestaltet haben, natürlich
der Wind aus den Segeln genommen.
Manche der Verantwortlichen scheinen übrigens wirklich an
die Mär zu glauben, daß eine neue Website eine gute
Website ist. Ich bin dann immer versucht zu fragen, ob sie denn
auch schon wissen, welche Probleme es mit der neuen Site geben
wird, die sie dann mit dem nächsten "Relaunch" lösen,
dessen Probleme sie schließlich mit dem übernächsten
Relaunch ausmerzen, so daß beim überübernächsten
Relaunch (uswusf.).
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