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Geschlossenheit und gute Fortsetzung Erstkontakt
Artikel 4 von 34

KommDesign.de — Texte — Wahrnehmung — Gestaltpsychologie (3)

Prägnanz, Einfachheit und "gute Gestalt"

Eine vorbereitende Beobachtung
Das Gesetz der Einfachheit
Das Auge ist willig, doch der Geist ist schwach
Ein Katzensprung: von der Einfachheit zur Effizienz
Praktische Konsequenzen
Fallbeispiel: Einfachheit im Layout

 
   
Eine vorbereitende Beobachtung

Viele Dinge (Gegenstände, Figuren, Formen, Linienzüge, Szenen etc.), die uns in der Realität, in Medien oder auch im Web begegnen, kann man auf verschiedene Weise interpretieren oder sehen. Betrachten Sie z.B. die Linienzeichnung auf Abbildung 1 unter A. Sie werden zwei Linien wahrnehmen, eine runde, und eine eckige Wellenlinie - soweit Wellen eckig sein können -, die gewissermaßen übereinander projiziert sind. Zur Verdeutlichung sind unter B die beiden Komponenten noch einmal getrennt dargestellt.


                   Abbildung1

Das ist nicht weiter aufregend, bis man sich klar macht, dass es auch andere Interpretationen der Zeichnung gibt. Eine hiervon sieht man in der Abbildung unter C. Hier sind zwei komplexere, ornamentartige Linien dargestellt, die in der "Summe", also wenn man sie übereinanderlegt, ebenfalls genau das Muster A erzeugen würden. Warum sehen wir nicht diese? Oder etwas anderes? Es gibt in der Tat noch eine ganze Menge anderer Möglichkeiten, die ich allerdings nicht im Einzelnen darstellen möchte (es sind, nebenbei bemerkt, sehr viele). Man kann sich das Zustandekommen des Eindrucks mit Hilfe des Gesetzes der guten Fortsetzung gut erklären: Die Linien unter B verlaufen glatt und druchgehend, während die unter C zwar ganz hübsch, aber doch ziemlich unregelmäßig aussehen. Also entscheidet sich unser Auge dafür, das Bild wie die Alternative B zu verstehen.

Aber Moment! Ist Wahrnehmen nicht ein fotografischer Vorgang, also eine Projektion der Realität in unser Bewusstsein? Kann unser Auge denn etwas "entscheiden"? Sollte man das nicht eher als "Denken" bezeichnen? Das Beispiel zeigt, dass eben dies der Fall ist. Sehen ist also ein aktiver Vorgang, es hat immer den Charakter einer Schlussfolgerung. Unser Auge interpretiert die sichtbare Umwelt nach bestimmten Regeln, die zwar plausibel, aber nicht objektiv "wahr" sind. Im Zusammenhang mit dem Phänomen der  subjektiven Konturen aus dem vorigen Artikel haben wir dies schon einmal festgestellt. Und einige dieser Regeln kennen wir bereits: Unsere Wahrnehmung gruppiert z.B. Informationen nach den Gesetzen der Nähe, der Ähnlichkeit, der Geschlossenheit und der guten Fortsetzung.

Die Gestaltpsychologen formulierten noch ein weiteres, allgemeineres Prinzip, das man sozusagen als "Meta-Gesetz" verstehen kann.

 
 
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Das Gesetz der Einfachheit

Unsere Wahrnehmung sieht Dinge so, dass sie einfach erscheinen und leicht zu beschreiben sind.

Die Nomenklatur ist auch hier - wie bei den schon dargestellten Gesetzen übrigens auch - nicht ganz einheitlich, man spricht u.a. von dem Gesetz der Einfachheit, der "Prägnanz" oder der "guten Gestalt".

Betrachten wir noch zwei Beispiele:

Abbildung 2: Sie sehen einen durchgehenden sich in Schleifen kreuzenden Linienzug (A). Die Möglichkeit unter B, spitz zulaufende Kreise (gestrichelt), die an die Enden einer gezackten Linie anstoßen, ist auch möglich, aber irgendwie kommen wir nicht auf die Idee, so zu sehen. Es wäre zu umständlich.

 

 

Abbildung 3: Was sich in A eindeutig als ein auf einem grauen Rechteck liegendes oder schwebendes Kreuz darstellt, kann auch anders erklärt werden. In B ist eine Alternative: Ein an der Oberseite gezackt ausgeschnittenes Rechteck, das eine weiße Figur verdeckt, die man als Rechteck mit an der Oberseite ausgeschnittenen Ecken beschreiben könnte. (Die von der grauen Figur verdeckte Umrisslinie ist auf der Zeichnung gestrichelt.) Das ist allerdings gewagt, unsere spontane Wahrnehmung weigert sich deshalb, diese Möglichkeiten in Betracht zu ziehen.

Wenn Sie sich die Beispiele aus den vorigen Artikeln zu den Gestaltgesetzen noch einmal ansehen, werden sie bemerken, dass sie alle genau diesem Prinzip gehorchen. Die nach den Gestaltgesetzen "wohlgeformten" Eindrücke sind immer einfach und prägnant. Die Gesetze der Nähe, der Ähnlichkeit usw. sorgen also dafür, dass Einfachheit als übergeordnetes Prinzip wirken kann.

Ist das Auge also ein Faulpelz?

 
 
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Das Auge ist willig, doch der Geist ist schwach

Unser Bewusstsein kann sich immer nur auf eine von mehreren möglichen Wahrnehmungsalternativen einstellen. Deshalb sind wir nicht dazu in der Lage, Sinneseindrücke gleichzeitig in verschiedenen Bedeutungen zu sehen.

Dieses Prinzip kann man leicht anhand von Kippfiguren verdeutlichen. Das einfachste und bekannteste ist der auf der folgenden Grafik abgebildete "Necker-Würfel".

Abbildung 4: Wenn man die Figur A längere Zeit betrachtet, kommt es zu einem Effekt, den man als "Hin- und Herkippen" zwischen zwei räumlichen Alternativen beschreiben kann (in B und C angedeutet). Beide sind "richtig", also sinnvolle Interpretationen des Bildes, aber: wir können immer nur eine davon wahrnehmen.

 

Abbildung 6: Auch hier gibt es zwei Alternativen: Eine Treppe in der Aufsicht oben oder ebenfalls eine Treppe, aber in einer Ansicht von schräg unten. Die erste Alternative ist die einfachere, deshalb werden Sie sie wahrscheinlich als erstes sehen, also von oben "auf" die Treppe blicken. (Es hängt auch davon ab, aus welcher Richtung man den Blick in das Bild lenkt.) Mit etwas Geduld hat, springt das Bild dann um, und mit noch mehr Geduld beginnt das Bild wieder hin und her zu springen.

Diese eigenartige Unfähigkeit, mehrere Bedeutungen eines Reizes gleichzeitig zu sehen, ist übrigens kein Merkmal unserer Wahrnehmung (obwohl die Formulierung dies nahelegt). Es handelt sich vielmehr um eine Eigenart unseres Bewusstseins, die Kausalität kommt also gewissermaßen "von oben". Im Bewusstsein ist nur Raum für eine einzelne Bedeutung, und deshalb erscheint die Wahrnehmung so unflexibel. Dieses Limit ist so grundlegend, dass es selbst bei vergleichsweise einfachen Dingen wirkt. Man muss keine Intelligenzbestie sein, um die beiden Interpretationen eines Necker-Würfels zu verstehen, doch unser angeborener Zwang zur Eindeutigkeit läßt uns eben immer nur eine davon sehen. In dem KommDesign-Text über die Grundlagen der Aufmerksamkeit wird der Unterschied zwischen "präattentiven" Wahrnehmungsvorgängen (die kein Kapazitätslimit haben und mehrere Bedeutungen gleichtzeitig verarbeiten) und dem Bewusstsein (das immer nur für eines Platz hat) noch genauer erläutert.

 
 
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Ein Katzensprung: von der Einfachheit zur Effizienz  

Der Necker-Würfel und verwandte Figuren sind übrigens ein weiteres schönes Beispiel für das Gesetz der Einfachheit. Machen wir hierzu einmal ein kleines Gedankeneperiment. Stellen Sie sich vor. Sie sollten einer anderen Person am Telefon erklären, was Sie auf Abbildung 5 unter A sehen.

Abbildung 5:

Solange man sich dafür entscheidet, das Bild dreidimensional zu interpretieren, ist das ganz einfach: "Ein Würfel." Damit ist das wesentliche gesagt. Könnte man nun noch den genauen Betrachtungswinkel definieren (was nicht trivial ist, doch das ist hier nicht wichtig), wäre die in der Grafik enthaltene Information mit minimalem Aufwand eindeutig und erschöpfend beschrieben. Nehmen Sie nun einen mentalen Hammer und schlagen Sie die Figur platt, mit anderen Worten: konzentrieren Sie sich auf die zweidimensionale Information in der Figur. Jetzt wären die unter B gezeigten Formen zu beschreiben. Das ist sehr viel schwieriger. "Ein Quadrat mit zwei gleich großen Parallelogrammen an der rechten und oberen Kante, deren längere Seite bündig mit dem Quadrat abschließt, und die zueinander......" Nein. Das ist zu umständlich. Also? Sehen wir die Illusion von Räumlichkeit (mehr als eine Illusion ist es nicht, denn der Monitor ist ja zweidimensional), weil sie sozusagen "sparsamer" ist als alle denkbaren Alternativen. Und damit haben wir den Kern des Gesetzes der Einfachheit - übrigens auch aller zuvor beschriebenen Gestaltgesetze - aufgedeckt: Effizienz.

Die Gestaltgessetze bewirken, dass aus der u.U. unendlich großen Zahl an Interpretationen eines Reizes diejenigen ausgewählt werden , die der Verstand am leichtesten handhaben kann.

Dieser Gesichtspunkt ist von hoher evolutionspraktischer Bedeutung. Das Sehen nach den Gestaltgesetzen reduziert die "kognitive" (das Denken und Entscheiden betreffende) Belastung und sorgt letztlich dafür, dass wir schnell reagieren können. Hätten sich unsere Altvorderen zu sehr mit dem Auswerten von Alternativen beschäftigt, wären sie sang- und klanglos untergegangen, von Bäumen erschlagen, in Abgründe gestürzt, oder verschwunden im Rachen von Säbelzahntigern und Höhlenbären.

 
 
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Praktische Konsequenzen

Aus dem bisher gesagten ist eine wichtige Empfehlung abzuleiten: Mache die Dinge möglichst einfach und eindeutig. Man kann die vielzitierte "KISS-Regel" ("keep it simple and stupid") direkt aus dem Gestaltgesetz der Einfachheit begründen (zumindest was wahrnehmungsfreundliches Design betrifft). Betrachten wir hierzu einmal ein Beispiel, ein Wort in einfacher Bildschirmschrift:

 Touristik

Was kann man tun, um dieses trockene Stück Text zu beleben, beispielsweise eine Überschrift daraus zu machen? Geben Sie es einem (über-)eifrigen Designer, er wird mit Sicherheit Möglichkeiten finden, die Sache etwas aufzupeppen. Er könnte...

      •  einen schicken Hintergrund einfügen,
      •  die Schrift vergrößern,
      •  die Schrift fett machen,
      •  diese Schrift auf kursiv einstellen,
      •  den Text schön farbig gestalten,
      •  einen schickeren Schrifttyp wählen,
      •  der farbigen Schrift noch einen Umriss verpassen,
      •  dem Wort ein Aufzählungszeichen voranstellen,
      •  das Aufzählungszeichen schön farbig gestalten,
      •  ihm einen dreidimensionalen Look geben,
      •  noch einen Schlagschatten hinzufügen

... und sich entspannt zurücklehnen, um sein Werk zu bewundern. Das würde dann in der Vergrößerung etwa so aussehen:

Abbildung 6

Quelle: www.koblenz,de, Screenshot vom 27.03. 2002

Schön...

 

...wirklich?

Das Gesetz der Einfachheit wäre hierüber nicht begeistert - sofern ein Wahrnehmungsgesetz überhaupt Gemütsregungen haben könnte. Und sofern es sprechen könnte, würde es fragen: "Welche Maßnahmen sind denn notwendig, um den Effekt - hier: eine Hervorhebung - zu erreichen? Dies soll getan werden. Und hört dann sofort auf, denn alles was noch hinzukommt, wird die Prägnanz nicht verbessern sondern verschlechtern: es wird 'überdesignt', und das gefällt mir nicht".

Das klingt hart. Darf denn ein bisschen Styling nicht sein? Natürlich. Doch auch für das Styling gilt: immer nur so viel, bis erreicht ist, was erreicht werden soll - wobei man hierüber allerdings Bescheid wissen muss, was bei Menschen, die zum überdesignen neigen, in der Regel nicht der Fall ist. Und - zumindest im Web - ist ein zweiter Gesichtspunkt wichtig: man darf niemals so gestalten, dass die Funktion zu leiden beginnt. In unserem Touristik-Beispiel ist genau dies geschehen. Die Begriffe "Schönheit" und "Effekte" wurden verwechselt.

 
 
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Fallbeispiel: Einfachheit im Layout  

Das Gebot der Einfachheit gilt nicht nur auf der Ebene einzelner Figuren, sondern auch im Layout bzw. dem Gestaltungsraster von Internet-Seiten. Hier lässt es sich sogar besonders schön veranschaulichen. Vorausschicken sollte man, dass nutzerfreundliches Layout die Aufgabe hat, dem Leser eine rasche, sichere Orientierung in den Inhalten zu ermöglichen, Blickbewegungen zu steuern, Wichtiges zu ekennen, Grenzen und Gruppierungen zu verstehen. Dies gilt sowohl auf einer Bildschirmseite (dem sichtbarn Ausschnitt) als auch auf einer Seite in ihrer Gesamtlänge - die ja u.U. mehrere Bildschirmseiten betragen kann.

Auf dem folgenden Screenshot habe ich das Gestaltungsraster einer Startseite - also die Zellen der Tabelle, in der die Texte angeordnet sind, und die für Bilder vorgesehenen Bereiche - in unterschiedlichen Grautönen eingefärbt, um die Anatomie des Layouts sichtbar zu machen.

Abbildung 7

Quelle: www.t-online.de, Screenshot vom 02.01. 2002

Der Effekt ist im wahrsten Sinn des Wortes augenfällig. T-Online unternimmt schier unglaubliche Verrenkungen, um ein einfaches Layout mit klaren Fluchtlinien zu verhindern. In einem fünfspaltigen Raster werden alle möglichen Kombinationen, die man durch das Zusammenziehen von jeweils zwei Zellen bilden kann, durchgespielt. Es wirkt wie ein überkandidelter Necker-Würfel, der sich zum Ziel gesetzt hat, möglichst viele Deutungen hervorzurufen, ohne dass sich eine einzelne wirklich durchsetzen kann. Das Ergebnis ist desolat. Wie sich Layout einfacher - und wahrnehmungsfreundlicher - bewerkstelligen läßt, zeigt noch einmal Abbildung 8. Das Raster ist dreispaltig und es gibt keine Überkreuzungen oder versetzt angeordnete Zellen in den vertikalen Fluchtlinien des Rasters. Zellen der beiden linken Spalten haben zwar einen deutlich unterschiedlichen Rhythmus, doch sie sind klar abgegrenzt. Das Ergebnis: Der Eindruck ist sehr viel ruhiger und auch eindeutiger als das zuvor gezeigte Beispiel.

Abbildung 8

Quelle: www.bahn.de, Screenshot vom 20.12. 2001

 
   

Damit möchte ich die Reise durch die Gestaltgesetze - vorläufig - abschließen. Es gibt auch noch speziellere Gesetze, die ich hier aber nicht im einzelnen darstellen möchte, z.B. das "Gesetz des Aufgehens ohne Rest", das "Gesetz des gemeinsamen Schicksals", oder das "Gesetz der Ebenbreite". Auch sie stehen letztlich im Dienst des Gesetzes der Einfachheit. Man kann also sagen, dass gutes - oder sagen wir: wahrnehmungsfreundliches - Design visuell einfach und eindeutig ist (keine sensationelle Neuigkeit, ich weiß). Es gibt natürlich auch Fälle , in denen das Verschleiern von Bedeutungen oder die Darbeitung komplexer Reize sinnvoll sein kann (Uneindeutiges fordert das Denken heraus, Komplexität zieht die Aufmerksamkeit an), doch diese Gesichtspunkte kommen sozusagen "später" ins Spiel, wenn es um weiterführende Denkprozesse geht. Auf der Ebene der Wahrnehmung und der Funktion ist die einfachere Lösung in den meisten Fällen die bessere.

 

 
 
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Wegweiser zum Thema Wahrnehmung:
   
  auf KommDesign.de
   
 

Bücher:  visuelle Intelligenz von Donald Hofmann

 
 

 

  im Web
 

 

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Geschlossenheit und gute Fortsetzung Erstkontakt

 
© Dr. Thomas Wirth Kommunikationsdesign - eMail: thomas.wirth@kommdesign.de
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